„Als Rabbi Noach, Rabbi Mordechais Sohn, die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte, merkten die Schüler, daß er in manchem sich anders als jener betrug, und befragten ihn darum. «Ich halte es», antwortete er, «genauso wie mein Vater. Er hat nicht nachgemacht und ich mache nicht nach.»[1]

 

 

Über die Meditation

Im Gedenken an Georg Kühlewind

 

 

Jeder kann seinen eigenen Weg gehen

 

Wenn ich mich nach 28 Jahren der Freundschaft mit Georg Kühlewind und der Vertrautheit mit seinen Schriften danach frage, was die Essenz davon ist, was ich von ihm gelernt habe, so könnte ich es so zusammenfassen: Ja, auch für Dich gibt es einen Weg. Du musst weder begabt noch gebildet sein, du musst keine besonderen äußeren Voraussetzungen erfüllen. Denn der Weg zur geistigen Welt führt durch das Quellgebiet deiner eigenen, gegebenen Fähigkeiten, und niemand ist berufener als du, dieses Gebiet zu überqueren. Du stehst mit niemandem im Wettbewerb, du musst niemanden besiegen. Du musst nur den Mut und die Ehrlichkeit haben – anstatt im „blinden Glauben“[2] einer Lehre zu folgen –, deine eigenen Grenzen im Bewusstsein abzutasten und zu erweitern. Wenn du unbegabt bist, so hat das auch Vorteile: Du kommst rascher zu deinen Grenzen und kannst rascher anfangen, sie zu erweitern. Den Übungsweg zu gehen, bedeutet: die eigenen Grenzen jeden Tag – und sei es um einen noch so winzig kleinen Schritt – zu erweitern. 

 

Rudolf Steiner hat über die geistige Welt in einer solchen Art und Weise gesprochen, dass sie für Menschen des naturwissenschaftlichen Zeitalters zugänglich werden kann. Er hat den Zugang sozusagen um „einige Etagen“ heruntergeholt, womit ein spiritueller Weg möglich wird, der vom gewöhnlichen Denken ausgeht. Kühlewind hat diese Arbeit fortgesetzt, den Übungsweg ganz ausführlich ausgearbeitet und eine direkte Verknüpfung zwischen den – dringend notwendigen – therapeutischen und den weiterführenden, meditativen Schritten hergestellt. Seine Arbeit war kompromisslos ehrlich und selbstlos. Er hat vermutlich keinen einzigen Satz niedergeschrieben, hinter dem keine direkte Erfahrung stand.

 

 

Das Paradoxon des Übens

 

Das Grundparadoxon eines Übungsweges liegt darin, dass ich nur etwas üben kann, was ich schon kann – etwas was ich nicht kann, kann ich ja logischerweise nicht üben. Das ist eine einfache, aber oft übersehene Tatsache. Was nützt es mir aber, wenn ich etwas übe, was ich sowieso schon kann? Interessanterweise kann ich, wenn ich meine eigene Tätigkeit in voller Aufmerksamkeit verfolge, dabei Fehler entdecken und korrigieren. Offensichtlich kann meine beobachtende Aufmerksamkeit etwas, was meine ausführende Aufmerksamkeit noch nicht kann. In der Erübung künstlerischer Tätigkeiten sind diese zwei Arten der Aufmerksamkeit ziemlich gut erkennbar getrennt: Die erste verfolgt etwa die Musik selbst, die zweite hingegen z.B. die Hand, die den Bogen führt. Deshalb kann der Musiker die falschen oder unschönen Töne korrigieren. In der Bewusstseinsschulung tritt zwar kein Teil der aktuellen Tätigkeit in die sinnlich wahrnehmbare Erscheinung, die – zumindest zwei – verschiedenen Stufen der Aufmerksamkeit sind trotzdem da. Als wäre die eine oben – im Himmel – und die andere unten – auf der Erde.  

 

 

Ich-Erfahrung in der Konzentration

 

Wenn ich mir in der Konzentrationsübung[3] einen einfachen, menschengemachten Gegenstand (wie z.B. einen Löffel) in seinen verschiedenen Formen und Tätigkeiten intensiv vorstelle, so wird das zunächst meistens ganz gut gelingen. Ich werde mir verschiedene Löffel vorstellen können, das Ganze wird eine Weile Spaß machen. Früher oder später komme ich aber zu einem Punkt, wo es plötzlich nicht mehr geht, wo es droht, langweilig zu werden. So überraschend es klingen mag: Genau das ist der magische Punkt, die erste Schwelle zur geistigen Welt. Wenn ich an diesem Punkt die Übung nicht abbreche, sondern wenn es gelingt, den Gegenstand zu halten und liebevoll weiter vorzustellen, dann tritt mit Sicherheit eine Steigerung der Intensität der Aufmerksamkeit ein. Die ausführende und die beobachtende Aufmerksamkeit fangen an, sich einander anzugleichen – bis zu dem Punkt, wo sie in der vollen Konzentration zusammenfallen. In der Kunst ist das der Unterschied zwischen Üben und Ausführen (etwa im Konzert). Während der Übung darf ich noch beobachten und korrigieren. Während der Ausführung muss die (z.B. musikalische) Inspiration direkt in die Handlung übergehen. Es gibt keine Zeit mehr zum Korrigieren und auch keine Notwendigkeit. Ein Künstler, bei dem die Trennung zwischen der inspirativen, empfangenden und der durchführenden, handelnden Aufmerksamkeit nie auftritt, braucht nicht zu üben. Ist aber diese Trennung einmal da, dann ist die Übung unerlässlich – um die Trennung zumindest gelegentlich überwinden zu können. Wer sich in dieser Angelegenheit betrügt, wird nie ein echter Künstler. 

 

Sehr ähnliche Überlegungen gelten für den Geistesschüler. Er geht aus seinem gegebenen, dualistischen Bewusstsein aus – wovon sonst könnte er ausgehen? Dieses Bewusstsein wacht immer im Nachhinein auf, darum sieht es nur Vergangenes, Totes. Wir leben in einer Welt toter Zeichen. Jedes Zeichen – egal ob es ein Naturphänomen, ein Text oder ein beliebiges menschliches Werk ist – ist der abgestorbene Ausdruck einer Bedeutung, eines Verstehens, einer geistigen Gebärde. Wie „das Tote auf ein Lebendiges“, „der Leichnam auf einen lebenden Menschen“[4] hindeutet, so deutet jedes Zeichen auf die Ebene des lebendigen Gegenwarts-bewusstseins, von der es stammt. Der meditierende Geistesschüler ist so etwas wie ein umgekehrter Dichter. Der Dichter gießt das Feuer seiner Seele in Buchstaben. Der Geistesschüler entfacht die Buchstaben in seiner Seele zum Feuer. Wenn er in die oben geschilderte einheitliche – monistische – Aufmerksamkeit eintritt, dann entfacht sich in ihm das Feuer des eigenen Ichs. Das ist das Feuer, das schon immer als Symbol des Geistes galt[5] – ein Bild, das auf eine reale Erfahrung hindeutet. Das ist die wahre Ich-Erfahrung, die all die alltäglichen, mittelmäßigen Erfahrungen verblassen lässt. Von einer Langweile kann keine Rede mehr sein: Die Übung geht wie von selbst weiter – bis zur nächsten Schwelle. Diese Erfahrung in der Konzentration ist die Vorbedingung dafür, dass ich versuchen kann, zur Meditation voranzuschreiten.

 

 

„Es ist dieses Meditieren eine urfreie Handlung“

 

„Wenn der Mensch einmal beginnt, Meditationen zu machen, so vollzieht er damit die einzig wirklich völlig freie Handlung in diesem menschlichen Leben. ... Es ist dieses Meditieren eine urfreie Handlung[6]. 

Ich versuche nun im Folgenden die Schritte zur Meditation am Beispiel dieses Satzes detailliert zu beschreiben. Die drei wichtigsten Schritte sind, wie bei Kühlewind mehrfach vorgestellt[7]: (1) Nachsinnen, (2) Zusammenziehen in ein einziges Wort, (3) Eintreten in das wortlose Element der Meditation. Bevor ich die einzelnen Schritte durchgehe, möchte ich das Wichtigste festhalten: Das Ziel der Meditation ist nicht, zu irgendwelchen „großartigen“ Gedanken zu kommen, sondern zu einer Erfahrung der qualitativen Veränderung, der Steigerung der Aufmerksamkeit. Ich kann hier aus Platzgründen nur auf eine Art der Meditation, auf die Satzmeditation eingehen. Beschreibungen weiterer Mediationsarten, wie der Wahrnehmungs-, der Symbol- und der Willensmeditation befinden sich in verschiedenen Werken von Rudolf Steiner und Georg Kühlewind[8].

 

1.      Nachsinnen 

Ich versuche, den Satz – ausgehend von der sofort verständlichen ersten Bedeutung – so gründlich wie möglich zu durchdenken. Ich kann mich z.B. fragen: Was bedeutet „eine urfreie Handlung“? Ich setze mich zweifelsohne freiwillig zum Meditieren hin, doch ist das damit schon eine freie Handlung? Ich habe ja gerade darüber gelesen oder gehört, es schwirren eine Menge Gedanken und Assoziationen durch meinen Verstand: Ist das frei? Gar urfrei? Müsste Freiheit nicht viel weiter gefasst verstanden werden? Frei von allem, von jeder Vorkenntnis, jeder schon bekannten Vorstellung, ganz „jungfräulich“ im Sinne von Meister Eckhart: „»Jungfrau«, dies bedeutet so viel wie ein Mensch, der von allen fremden Bildern frei ist, ebenso frei, wie er es war, als er nicht war.“[9] Und inwiefern können wir hier von einer „Hand-lung“ reden? Ich brauche dazu nicht nur die Hand nicht, sondern überhaupt nichts, was in die Wahrnehmbarkeit tritt. Das ist dann vielleicht Fantasie. Aber Handlung? Vielleicht im Sinne einer Weihehandlung? Oder der Handlung eines Theaterstücks? Hat mein Leben eine Handlung – ähnlich wie ein Theaterstück? In den meisten Theaterstücken (insbesondere in den großen griechischen Tragödien) sind die handelnden Personen mehr oder weniger Spielzeuge ihrer Schicksale – nur der Autor und seine Komplizen, die Zuschauer, kennen die ganze Handlung. Wie ist das mit meinem Leben? Kenne ich dort die Handlung? Bin ich Autor „der Handlung“ meines Lebens? Oder zumindest Zuschauer? Oder eher eine Figur, die nur seine eigene Partie lebt und vom Schicksal hin und her gerissen wird? Dann: Warum steht im Satz: dieses Meditieren? Worauf bezieht sich dieses? Im Alltagsgebrauch ist „dieses“ der Gegensatz von „jenes“. Aber das dualistische Bewusstsein kann „dieses“ gar nicht denken: Es meint dabei auch etwas, worauf man hinzeigen kann, was aus der Aufmerksamkeit gerade herausgefallen ist und damit schon „jenes“ geworden ist. „Dieses Meditieren“ kann sich natürlich grammatikalisch an das vorhergehende Vorkommen des Wortes beziehen, aber es könnte auch dieses Meditieren bedeuten, welches ich gerade ausübe. Dann weist es aber nicht auf etwas hin, was schon geschehen ist, sondern ist eine Bezeichnung des absolut aktuellen Tuns in der Gegenwart. Kenne ich die Gegenwart? Kenne ich sie als eine andere als die gerade vergangene? Könnte dies bedeuten, dass ich gerade diesen Schritt machen muss: eintreten in die Gegenwart, dort handelnd werden im Geiste und damit einen wahren Anfang setzen, eine urfreie Handlung durchführen?

All das sind bisher nur Gedanken und ist noch keineswegs die Meditation selbst. Trotzdem: Wenn es mir gelingt, solche Gedankengänge konzentriert zu denken, dann tritt wieder – wie schon bei der Konzentration besprochen – entweder Ermüdung und Abbruch oder aber eine Steigerung der Intensität ein. Im letzteren Fall können wir den nächsten Schritt tun.

 

2.      Zusammenziehen in ein einziges Wort

Wenn ich so wie oben beispielhaft aufgeführt, den Satz gedanklich bewandert habe, kann ich versuchen, die Bedeutung des ganzen Satzes in ein einziges Wort zusammenzuziehen. Es ist schon in der ersten Phase aufgefallen, dass die Worte nicht in ihren gewohnten Bedeutungen zu nehmen sind, sondern in einer Art „Urbedeutung“, die alle anderen inkludiert. Deshalb kann ich fast beliebig ein einziges Wort aussuchen, das sich schon in der ersten Phase in seiner Bedeutung dermaßen „ausgedehnt“ hat, dass es plötzlich für den ganzen Satz stehen kann. Nehmen wir z.B. das Wort „Handlung“. Ich lasse meine ganze Seele zur Handlung werden, ich tue nichts anderes, als die Handlung zu halten, sich in mir abspielen zu lassen. Alles wird Handlung, und diese Handlung wird zur Wirklichkeit. Die Intensität der Aufmerksamkeit steigt weiter, und ich brauche immer weniger „Stoff“, immer weniger Worte und Bilder, bis es vielleicht gelingt, zu einem Punkt zu kommen, der gleichzeitig Stillstand und kontinuierliches Geschehen ist. Das klingt paradox und ist paradox. Ich bin an der Schwelle der Gegenwart des Bewusstseins und damit auch an der Schwelle der geistigen Welt angekommen. Die Gefahr für die nächste Verdunkelung, für einen unwillkürlichen Abbruch der Übung ist noch viel größer als früher. Nichts mehr kann ich „aus dieser Welt“ mitnehmen, und das ist unendlich schwer zu ertragen. Ich kann entweder eintreten oder zurückschrecken vor dem Nichts, das sich an der Grenze des Bewusstseins ahnen lässt.

 

3.      Eintreten in das wortlose Element der Meditation

Das „Nichts“ ergibt sich als die Fülle von Leben und Geschehen. Ich trete in das Element des Feuers, des Geistes, des Lichtes – des reinen Verstehens – ein. Das Denken wird nicht mehr durch einzelne Gedanken und Pausen dazwischen unterbrochen, sondern es fließt. Es wird zur Erfahrung: „Nicht ich denke bloß, sondern es denkt in mir“[10]. Man könnte wähnen, das sei im Widerspruch zur Freiheit – so ist es aber nicht. Freiheit bedeutet nicht, dass ich alles selbst mache, alles aus mir selbst heraushole, sondern dass ich meinen Anteil dazugebe und den Anteil, der aus der geistigen Welt kommt, zulasse. „Daß der Mensch Gott in sich empfängt, das ist gut, und in dieser Empfänglichkeit ist er Jungfrau. Daß Gott in ihm fruchtbar werde, das ist besser.“[11] Ich habe mit diesem Schritt den Meditationssatz verwirklicht, erst jetzt drückt er eine Wahrheit aus. Vorher war er nur ein totes Zeichen von einer früheren Erfahrung, die jetzt wiederbelebt worden ist. Die „Gestalt“, den „Geschmack“ dieser, für diesen Satz spezifischen Erfahrung könnte man Imagination nennen. Das hat mit üblichen Vorstellungsbildern nichts zu tun. 

„Was ich durch diese Erweckung zu den Dingen hinzubringe, ist nicht eine neue Idee, ist nicht eine inhaltliche Bereicherung meines Wissens; es ist ein Hinaufheben des Wissens, der Erkenntnis, auf eine höhere Stufe, auf der allen Dingen ein neuer Glanz verliehen wird. Solange ich die Erkenntnis nicht zu dieser Stufe erhebe, bleibt mir alles Wissen im höheren Sinne wertlos.“[12] 

In der meditierenden Seele wird der Satz zum Leben erweckt. Wird er wieder ausgesprochen, hüllt er sich wieder in Worte, die auf die Auferstehung warten – in der Meditation. Das gilt für jeden meditativen Text, auch für das Werk von Steiner – und für das von Kühlewind. Er wird es für uns nicht mehr beleben können – wir müssen es tun.



[1] Aus: Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim, In den Spuren des Vaters (Manesse Verlag, S. 625)

[2] „Der wahre Geistesforscher spricht niemals mit der Erwartung, daß ihm blinder Glaube entgegengebracht wird“. Rudolf Steiner: Theosophie, GA 9, S. 173.

[3] Siehe dazu z.B. Vom Normalen zum Gesunden – Wege zur Befreiung des erkrankten Bewusstseins oder Licht und Freiheit – Ein Leitfaden für die Meditation von Georg Kühlewind.

[4] R. Steiner: Drei Schritte der Anthroposophie: Philosophie, Kosmologie, Religion, GA 25, S. 34. 

[5] „Ich taufe euch mit Wasser zur Buße; der aber nach mir kommt, ist stärker als ich, und ich bin nicht wert, ihm die Schuhe zu tragen; der wird euch mit dem heiligen Geist und mit Feuer taufen.“ Matthäus, 3.11. „Ein Licht blitzt in mir auf und beleuchtet mich, und mit mir alles, was ich von der Welt erkenne.“ Rudolf Steiner: Die Mystik, GA 7, S. 21.

[6] R. Steiner: Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst, GA 305, S. 079.

[7] Siehe dazu G. Kühlewind: Vom Normalen zum Gesunden – Wege zur Befreiung des erkrankten Bewusstseins.

[8] Siehe die Referenzen in Anm. 3, sowie z.B. Der sanfte Wille von Kühlewind, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10, von Steiner.

[9] Meister Eckhart, Deutsche Predigten, Predigt II.

[10] R. Steiner: Die Schwelle der geistigen Welt, GA 17, S. 11

[11] Meister Eckhart, Deutsche Predigten, Predigt II.

[12] R. Steiner: Die Mystik, GA 7, S. 22